Viele Kulturen weltweit glauben oder glaubten: Man darf Sterbende nicht beim Namen rufen. Dieser Glaube wirkt auf uns heute seltsam. Beim genaueren Hinsehen eröffnet er eine faszinierende Welt voller Geschichten, Traditionen und tiefer Symbolik. Warum spielt der Name eines Menschen in solchen Momenten eine so besondere Rolle? Und welche Bedeutung hat diese Vorstellung in verschiedenen Kulturen?
Die Macht der Ansprache: Warum darf man Sterbende im spirituellen Sinne nicht beim Namen rufen?
Die spirituelle Bedeutung des Namens einer Person bildet die Grundlage für den Aberglauben, dass man Sterbende nicht beim Namen rufen darf. Manche Kulturen befürchten, dass das Rufen des Namens eines Sterbenden ihn „zurückhalten“ könnte. Das würde seine Reise in die nächste Welt unterbrechen oder erschweren. In anderen Kulturen glauben Menschen, dass dies die Aufmerksamkeit böser Geister wecken könnte. Die bösen Geister würden versuchen, die Seele zu stören oder gefangenzunehmen.
Ein Beispiel hierfür ist die Kultur der Navajo in Nordamerika. Die Navajo glauben, dass das Rufen des Namens eines Sterbenden ihre Seele verwirren könnte. So können sie nicht ihren gewollten Weg in die spirituelle Welt finden. In Südostasien, insbesondere in Thailand, gibt es ähnliche Praktiken: Dort nehmen sie ihren Abschied von den Sterbenden oft nur mit sanften Worten und keinen direkten Anreden. So bewahren sie die Harmonie und irritieren die Geister der Verstorbenen nicht.

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Die Bedeutung des Namens
Der Name eines Menschen ist mehr als nur Buchstaben auf einem Klingelschild. In vielen Kulturen gehört der Name untrennbar zur Person. Er stellt die Identität, die Seele und oft auch die Verbindung zur Familie oder der Gemeinschaft dar. Etwa in der altägyptischen Religion war der Name eines Menschen ein Teil seiner Seele. Erinnert sich niemand mehr an den Namen, kann die Seele keinen Frieden finden. Ähnliche Vorstellungen gibt es in asiatischen und afrikanischen Kulturen. Hier gilt der Name oft als Verbindungsglied zwischen der Person und ihrer spirituellen Energie.
In unserer heutigen modernen Kultur ist der spirituelle Aspekt nicht mehr so stark mit dem Namen verbunden. Trotzdem ist der Name eines Menschen noch von hoher Bedeutung. Das zeigt sich etwa bei transsexuellen Menschen. Für sie ist die Änderung des Namens ein wichtiger Schritt, um ihre Identität vollständig auszuleben. Das „Dead Naming“ – das Benutzen des alten, abgelegten Namens – ist deshalb mehr als nur ein kleiner Fauxpas. Es ist vielmehr ein Verleugnen oder Ablehnen der Identität.

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Ein weltweit vorkommender Aberglaube
Die Ursprünge dieses Aberglaubens liegen tief in der menschlichen Geschichte. Sie sind oft mit den frühen Vorstellungen über Leben, Tod und die Existenz einer spirituellen Welt verbunden. Es ist überraschend, in wie vielen Kulturen diese Verbindung zwischen dem Namen, dem Tod und der Spiritualität existiert. Weltweit prägen sie den Umgang mit Sterbenden und Verstorbenen. Der Aberglaube offenbart eine tief empfundene Ehrfurcht vor dem Prozess des Sterbens und das Bedürfnis, ihn zu beeinflussen.
In vielen alten Kulturen gab es den Glauben, dass der Übergang zwischen Leben und Tod ein sensibler und heiliger Prozess ist. Die Maori in Neuseeland versuchen, die Verbindung zur spirituellen Welt zu schützen. Dafür erwähnen sie den Namen bei der traditionellen Beerdigung kaum. Ähnlich verhält es sich bei den Yoruba in Westafrika. Hier rufen die Trauernden die Namen der Toten in speziellen Ritualen erst nach der Beerdigung an. So ehren sie die Verstorbenen, ohne den Übergang zu behindern.

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Im alten China schützen die Trauernden auch die Seele des Sterbenden. Auch sie riefen den Namen nicht, allerdings weil sie glaubten, dass der Name böse Geister anziehen könnte. Die bösen Geister bedrohen die Seele des Sterbenden. Ähnliche Rituale finden sich auch in anderen Kulturen, immer mit dem Ziel, die Seele eines Sterbenden zu schützen. Zum Beispiel schreiben die Khmer in Kambodscha vor, dass die Familie eines Sterbenden stille Gebete spricht und ruhige Musik spielt, anstatt seinen Namen anzurufen. So soll der Übergang möglichst friedlich geschehen.
Nicht nur in Bezug auf das Sterben hat der Name eine zentrale Rolle gespielt. Auch in anderen Situationen, wie Geburt, Initiationen oder spirituellen Zeremonien, behandelten viele Kulturen den Namen mit großer Ehrfurcht. Einige indigene Kulturen halten den wahren Namen eines Menschen geheim, damit er vor bösen Kräften geschützt bleibt.
Der Sinn hinter dem Aberglauben
In der modernen Welt mag dieser Aberglaube befremdlich erscheinen. Er findet trotzdem noch Anwendung, wenn Menschen mit dem Tod und dem Unbekannten konfrontiert sind. Manche Psychologen interpretieren ihn als Ausdruck der Angst vor dem Unkontrollierbaren in solchen Momenten. Mit Traditionen wie diesen können Trauernde ein Gefühl der Kontrolle über den Sterbeprozess bekommen.

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Die Traditionen rund um Sterben und Tod spenden vielen Menschen Trost, da sie eine strukturierte und sinnvolle Art des Abschieds ermöglichen. Rituale und Überzeugungen helfen, den Tod als Teil des Lebens zu akzeptieren. Menschen, die an diesem Aberglauben festhalten, verhalten sich oft besonders respektvoll und ruhig in der Nähe von Sterbenden. Sie vermeiden es, laut zu sprechen oder störende Aktivitäten auszuführen, um den Übergang in die nächste Welt zu erleichtern.
Fazit
Der Aberglaube, dass man Sterbende nicht beim Namen rufen darf, ist mehr als nur eine sonderbare Tradition. Er spiegelt die tiefsten Ängste, Hoffnungen und spirituellen Vorstellungen der Menschheit wider. Indem er die Bedeutung des Namens und die Zerbrechlichkeit des Übergangs zwischen Leben und Tod betont, zeigt er, wie faszinierend und vielfältig die kulturellen Perspektiven auf das Leben sind. Obwohl solche Überzeugungen vielleicht nicht wissenschaftlich erklärbar sind, bleiben sie ein wertvoller Blick in die Seele und die Symbolik von Gemeinschaften weltweit.